Jede Woche schliesst eine Bäckerei in der Schweiz, bald auch ein Fitnesscenter?
12. Oktober 2019
Verbundübungen als Basis
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Über die Trainierbarkeit des Körpers im Alter – und was Fitnesscenter lernen könnten

Im Rahmen einer Studie trainierten Männer und Frauen zwischen 65 und 75 während eines halben Jahres zweimal wöchentlich ihre Muskeln so, wie es junge Leistungssportler und -sportlerinnen tun – nicht mit denselben Gewichten und Belastungen, aber nach demselben Prinzip, also immer in einem Bereich zwischen 70 und 90 Prozent ihres maximalen Belastungsvermögens, gefolgt von dazugehörenden Erholungsphasen. Die Ergebnisse waren erstaunlich: Der Zuwachs an Beinkraft betrug bei den Frauen 53 Prozent, bei den Männern 48 Prozent. Die Ermüdungswiderstandsfähigkeit (Ausdauer) nahm um vier Prozent zu. Interessanterweise wurde dieser Zuwachs in der subjektiven Empfindung der Teilnehmenden weit höher eingeschätzt, weil ihnen tägliche Verrichtungen wie Einkaufen oder Gartenarbeit, die einen hohen Kraftanteil erfordern, nun buchstäblich leichter fielen. Auch die Beweglichkeit erhöhte sich dank physiotherapeutischer Begleitung um 45 Prozent – trotz der enormen gleichzeitigen Kraftzunahme. Die Koordination beim Lösen von kniffligen Bewegungsaufgaben nahm um stattliche 91 Prozent zu, die Gewandtheit bei komplexen Bewegungsfolgen im Raum auf Zeit und damit die aktive Sturzprävention stiegen gar um 136 Prozent.

Das Fernsehen berichtete gleich mehrfach: Allen voran die Tagesschau, gefolgt von Gesundheits- und Seniorensendungen, gefolgt wiederum von Medienberichten. Schulungsformate für geriatrische Ausbildungsstätten, für Pro Senectute, für den Vereinssport, ja auch für Fitnesscenter wurden in den Folgejahren geschaffen, viele Multiplikatoren wurden erreicht und mit diesen «Schweiz eigenen» Erkenntnissen versorgt. Die Studie hat Wirkung gezeigt, auch international. Denn Nachfolgestudien, wenn auch nicht so breit angelegt, bestätigten immer wieder: Auch ein «alter» Organismus ist trainierbar.

Zum Studienverlauf: Vor dem Training wurden alle Seniorinnen und Senioren von einem Arzt auf mögliche gesundheitliche Risiken untersucht, eine Physiotherapeutin testete ihre Muskeln, Gelenke und den Bewegungsapparat, und ein Trainer befragte sie zu ihrer Motivation. Anschliessend wurde der erste Leistungstest durchgeführt. Auf der Grundlage all dieser Werte stellte das Leitungsteam die individuellen Trainingspläne zusammen. Die einzelnen Trainings erfolgten in Kleingruppen und waren immer von einem Physiotherapeuten oder einer Physiotherapeutin begleitet. Das war einerseits ein Luxus, bot aber gleichzeitig die Möglichkeit, das Verhalten der Teilnehmenden zu beobachten und mögliche Probleme rechtzeitig zu erkennen. Das individuelle Leistungstraining wurde protokolliert und nach jeweils drei Wochen ausgewertet und angepasst. Nach drei Monaten erfolgten wiederum ein Leistungstest und eine ärztliche Untersuchung. Die Physiotherapeutin nahm erneute Messungen vor und verglich die Ergebnisse mit den Ausgangswerten. Der Trainer fragte nach dem individuellen Trainingsverlauf und den (teilweise neuen) Aussichten, Zielen und Wünschen. Daraufhin wurden die Trainingspläne entsprechend angepasst und verfeinert. Nach weiteren drei Monaten erfolgte eine Schlussauswertung, wiederum durch Arzt, Physiotherapeutin und Trainer, und ein Schlusstest hielt das neue maximale Leistungsvermögen fest.

Fordern ist wichtig

Die Resultate der Studie zeigen eindrücklich, dass auch ein älterer Organismus an seinen Aufgaben wächst und somit trainierbar ist. Die vor Studienbeginn vorherrschende Überzeugung, wonach im Alter primär Schonung wichtig sei für das Wohlbefinden, erwies sich als nicht allgemeingültig. Denn die Begleituntersuchungen zeigten auch auf, dass mit dem körperlichen Training auch der mentale Bereich und das seelische Gleichgewicht deutlich verbessert werden konnten. Somit erhöhte das relativ strenge Training die Lebensqualität nachweislich.

Förderung der Fitness im Hochalter am Beispiel des Generationenhauses in Basel: Hier wird das Körpertraining konsequent zusammen mit Kleinkindern durchgeführt. Die quirligen Kleinen und die «gstabigen» Alten vereint beim Spiel, das klugerweise so angeleitet wird, dass Klein und Alt gleichermassen davon profitieren.

Die Studie zeigte auch, dass Frauen in der Regel besser trainierbar sind als Männer. Dafür gibt es mannigfaltige Gründe. Die Interviews deckten einen besonderen auf: Die Frauen lernten aufgrund der optimalen Rahmenbedingungen während der Studie, sich etwas näher als üblich an ihre Grenzen heranzutasten. Und sie realisierten, dass sie ihre eigenen Fähigkeiten fördern können, indem sie sich fordern.

Wenn vor einem Vierteljahrhundert im Alter Schonung empfohlen wurde, dann nicht zuletzt deshalb, weil einem das Leben damals deutlich mehr abverlangt hatte als es heute der Fall ist. Die Automatisation war noch längst nicht so weit fortgeschritten und Entbehrungen waren allgegenwärtig, als die damaligen Alten noch jünger waren. Sie hatten körperlich noch richtiggehend «gechrampft». Das hat sich grundlegend geändert. Die meisten Seniorinnen und Senioren von heute waren im arbeitsfähigen Alter körperlich längst nicht mehr so intensiv tätig. Also wird diese «Inaktivität» heute auf freiwilliger Basis gerne mit Sport und Bewegung kompensiert.

Dennoch ist ein Training nach leistungssportlichen Kriterien nicht jedermanns Sache. Nur rund ein Drittel der Bevölkerung ist überhaupt regelmässig sportlich aktiv. Deshalb ist auffallend, wie viele hochstehende sportliche Angebote für die ältere Bevölkerung in der Schweiz anzutreffen sind. Die Studienresultate haben auch Mut gemacht, nicht einfach Schluss zu machen mit dem Training ab einem gewissen Alter. Im Gegenteil: Nach der Pensionierung hat man mehr Zeit denn je, sich körperlich aktiv etwas Gutes zu tun.

Seniorensport-Angebote in der Schweiz

Für alle «jungen» Alten gibt es grob gesagt drei Segmente, in denen Sport im weitesten Sinn angeboten wird. Das erste umfasst niederschwellige und kostenlose oder günstige Sportangebote für Männer und Frauen, die ohne weitere Verpflichtung besucht werden können. Dazu gehören die Angebote von kantonalen/lokalen Vereinen wie «Gsünder Basel» oder Aqua-Gymnastik in Freiluft-/Hallenbädern sowie themenfokussierte Bewegungswochen in Kooperation mit Sportvereinen und Sportstudios. Ausserdem gibt es landauf-landab Seniorenturnen und Seniorentanz-Veranstaltungen und die vielfältigen Krafttraining- und Fitness-Angebote der Pro Senectute. An all diesen Programmen beteiligen sich Kantone/Gemeinden in irgendeiner Weise, sei es durch Leistungsvereinbarungen mit den Anbietern, durch Mietzinsbeihilfen oder weitere Leistungen wie breite Informationsstreuung; viele dieser kostenlosen oder sehr günstigen Angebote werden dadurch überhaupt erst möglich.

Das zweite Segment umfasst den klassischen Vereinssport, der vielen Seniorinnen und Senioren auch im Rentenalter eine (sportliche) Heimat bietet. Allerdings ist eine Vereinsmitgliedschaft nötig und der Grad der Verpflichtung ist etwas höher. Gleichzeitig profitieren die Vereine vom langjährigen Know-how ihrer älteren Mitglieder für sportliche Anlässe, Meisterschaften sowie Feste. Der rege Austausch zwischen Alt und Jung ist ein weiterer Bestandteil des Vereinslebens, der anspornt und guttut. Die vielen Vereine und deren Sektionen weisen einen beachtlichen Seniorenanteil auf und betreiben jene Sportarten und Disziplinen, die auch die Jugendlichen und Aktiven betreiben, und zwar auf einem dem Alter angepassten Wettkampfniveau. So gibt es beispielsweise in der Leichtathletik Europa- und Weltmeisterschaften für bis zu 90-Jährige; so sehen sich Sportlerinnen und Sportler über Jahrzehnte auf allen Kontinenten wieder und können ihre Bekanntschaften weiterpflegen. Es gibt aber auch erfolgreiche Bestrebungen, im Alter vom eigenen Wettkampfsport wegzukommen und sich polysportiver zu betätigen. Und schliesslich – das ist ein Wesensmerkmal von Vereinen – soll auch das Gesellige nicht zu kurz kommen!

Das dritte Segment rundet die bunte Welt der Fitnesscenter mit privaten, kommerziellen Angeboten die Sportprogramm-Vielfalt ab. Das Angebot der meisten dieser Anbieter orientiert sich an den fordernden Trainingsmethoden, wie sie in der eingangs erwähnten Studie angewendet worden sind, und ergänzt sie geschickt mit Wellness- oder Physiotherapie-Leistungen.

Das Thema Sport ist auch im Hochalter (ab 90 Jahren) und in den Alters- und Pflegeheimen (AHP) nicht abwegig. Im Gegenteil: Viele AHP in der Schweiz verfügen über eigene sport- und bewegungsorientierte Programme für die Bewohnerinnen und Bewohner, teilweise sogar für Externe, zum Beispiel für Tagesaufenthalter. Und alle AHP haben ausgebildetes Personal für diese Trainingsprogramme. So verwundert es nicht, dass sich die Sprache der Aktivierungstherapeuten und -therapeutinnen an das Vokabular des Leistungssports anlehnt: Auch beim Turnen im Sitzen wird von «Schnellkraftübungen» gesprochen, die den 90- bis 100-jährigen Teilnehmenden helfen sollen, so lange es geht grösstmögliche Selbstständigkeit zu erhalten. Deshalb sind auf den Fluren oder in Gruppenräumen der AHP auch altersgerechte Ergometer aufgestellt, mit denen die Bewohnerinnen und Bewohner jederzeit, allein oder in Kleingruppen, selbstständig den Kreislauf anregen und in Schwung halten können und somit ihre Ausdauer trainieren. Sport und die Schulung der Beweglichkeit gehört in den AHP schon fast zum Alltag, mit und ohne Physiotherapie.

Fit bis ins hohe Alter durch regelmässige Bewegung

Alle diese Angebote und Einrichtungen für Seniorinnen und Senioren bis ins Hochalter zeigen, dass die Schweiz ein erfreulich breites, qualitativ hochstehendes «sportliches» Niveau aufweist, mit einer fast unglaublichen Vielfalt von Angeboten. Gerade in den Sommermonaten scheinen überdurchschnittlich viele sportlich aktive Alte unterwegs zu sein, auf dem Land wie in den Städten.

Wer sich mit einem Paar Turnschuhen ausrüstet, kann natürlich auch problemlos «unorganisiert» Sport treiben – allein, mit dem Hund oder mit Freunden und Freundinnen. Unser Land ist in vielen Belangen ein «Dorf» und Parkanlagen sowie die unmittelbare Umgebung jeder Ortschaft laden geradezu ein für Spaziergänge oder kurze Wanderungen. Wald-/Vita-Parcours oder Finnenbahnen sind ideal, wenn es ein wenig intensiver sein darf. Dann gibt es auch diverse Bike-Routen und neue Streetwork-Krafttrainingsparks für jedermann und jede Frau, ob jung oder alt.

In der Schweiz sind wir also bestens aufgestellt, damit niemand beten muss, um als gesunder Geist in einem gesunden Körper zu leben, wie es die römische Redewendung vorschlägt: «orandum est ut sit mens sana in corpore sano». In der Schweiz lässt sich nämlich bis ins hohe Alter leicht etwas dafür tun.

Förderung der Schnellkraft zur Minderung der Sturzrisiken – je höher die Ballone schnellen, desto stärker haben die Trainierenden am Tuch gezogen. Angeleitetes intensives Beweglichkeits- und Koordinationstraining in der Kleingruppe – mit allen Sinnen hoch und tief, hin und her, vorausschauend und spontan.

Die Situation der Fitnesscenter – eine Empfehlung

Wer «Körpertraining an Maschinen» oder «Bewegungsschulung zu Musik» kommerziell anbieten will, muss sich einiges einfallen lassen. Eine vielversprechende Namensgebung zum Beispiel. Denn wie gesehen sind die Möglichkeiten für sportliche Geister in der Schweiz auf einem beachtlich hohen Niveau; die Angebotsvielfalt ist enorm breit, aber fragmentiert, insbesondere im Seniorenbereich. Freiwillige (Vereins-)Angebote und vom Gemeinwesen/Steuerzahler geförderte Programme gehen Hand in Hand, wie es unserer Tradition entspricht. Da stehen kommerzielle Fitnesscenter schon mal in der Ecke. Müssen sich hervortun, müssen wirklichen Mehrwert bieten – Seniorinnen und Senioren sind zwar alt, aber nicht auf den Kopf gefallen! Wie also könnte dieser Mehrwert aussehen? Sind es zwingend ergänzende Leistungen wie Wellness/Nasszone?

Die Erfahrung zeigt: Anteilnahme, wirkliches Verständnis für die Bedürfnisse der älteren Generation sind das A und O. Das erfordert gerontologisches Wissen oder eigene Erfahrung. Welche Mühen und Nöte begegnen einem im Alter ab 60 Jahren? Worüber spricht Mann/Frau dann oder worüber eher nicht? – Altern ist nicht einfach, Altern hat mit Verlust zu tun. Sexyness zum Beispiel, das war einmal. Altern ist Abbau, bestenfalls Umbau. Trainer, ob weiblich oder männlich, müssen die Signale erkennen und zu deuten wissen, aber auf keinen Fall überspielen oder mit flotten Sprüchen wegwedeln. Wer das versteht, wer Vertrauen aufbauen kann, wird mit der älteren Generation gutes Geld verdienen. Denn das Alter ist ein dehnbarer Zeitraum; Alte, die sich verstanden fühlen, sind dankbare, treue Kunden – und dann erstaunlich langlebig.

Daniel Louis Meili

Diplomtrainer Swiss-Olympic, Leiter der eingangs erwähnten Nationalen Studie mit dem Titel «Seniorentraining», die 1994 mit dem Wissenschaftlichen Preis der Schweizerischen Gesellschaft für Sportmedizin ausgezeichnet wurde.

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www.meili.ch