Techniken zur Intensitätssteuerung im Personal Training Spotting und Hands-on-Techniken
3. Juni 2021
Deutschland: Pandemie der Inaktivität
3. Juni 2021

The New Normal!

Das ist doch alles nicht mehr normal! Wie oft habe ich das in den vergangenen 14 Monaten gehört?!

14 Monate, in welchen ich, wie geplant die «Fitnesswelt» aus einer gewissen Distanz betrachten konnte. Ich dachte an räumliche Distanz. Also räumlich in der Form, dass ich für 2020, während meines «Time-Stopps», einige Reisen geplant hatte, um losgelöst vom gewohnten Alltag, neue Ideen und Lösungen für diese Fitnesswelt zu finden. Dazu wollte ich italienisch lernen, in Italien, und neue Menschen kennenlernen. Die räumliche Veränderung erfolgte. Allerdings ganz anders – ich wurde in Räumen eingesperrt. Dagegen wurde ich aus anderen Räumen, in welchen ich mich gerne bewegt hätte, ausgesperrt – z.B. Fitnessstudios – und Italien!

Somit ergab sich die unerwartete Situa-tion, dass ich weiterhin lebhaften Kontakt zu Betreibern und der Indus-trie hatte. Als Gesellschafter von zwei Studios hat mich die Pandemie ja auch persönlich, aber noch viel mehr die Teams und die Mitglieder dieser Studios, betroffen.

Ich war gleichermassen entrüstet wie enttäuscht, als ich vor einiger Zeit folgende Aussage hörte: «Nicht der Virus ist unser Feind, sondern die Regierung». Es gilt der demokratische Grundsatz der freien Meinungsäusserung. Ich nehme das zur Kenntnis und sage ich dazu nur: «Unsinn»!

Es liegt mir absolut fern, mir anzumassen darüber entscheiden zu wollen oder zu können, welche Massnahmen zu treffen sind, um eine Pandemie zu bekämpfen. Was ist denn richtig und was ist falsch? Politiker möchte ich wahrhaft keiner sein. Das wollte ich noch nie. Ich wollte einfach nur gute Konzepte, Lösungen und Produkte entwickeln, ungestört arbeiten, Arbeitsplätze schaffen, die Regeln beachten, erfolgreich sein.

Ich glaube, dass die Pandemiekeule unsere Branche brutaler trifft als manche andere. Die Umsätze wurden ausradiert. Wenn wir unsere Studios wieder aufsperren, dann sind die Kosten wieder da. Liquidität und Bonität sind aber bei vielen weg. Genauso wie der mit viel Energie und Einsatz aufgebaute Mitgliederbestand. Bei so manchem Betreiber beläuft sich das im «soliden» zweistelligen Prozentbereich. Anders als bei Restaurants, Friseuren und Kinos sind wir bei der Wiedereröffnung nicht der erste Anlaufpunkt. Und «Take-Away-Training» gab es auch nicht. Erwähnenswert ist dabei zudem, dass während der Pandemie viele Betreiber ihre Mitglieder zu Gläubigern gemacht haben. Die werden ihre (Vor-)Leistung zurückfordern/einfordern und wir müssen uns nicht nur dafür gute Lösungen einfallen lassen, sondern wir müssen uns ausserdem überlegen, ob Abo-Modelle mit ganzjähriger Vorauszahlung bzw. wöchentlicher oder monatlicher Abbuchung noch akzeptiert werden und zeitgemäss sind. Vor allem dann, wenn die Leistungserbringung nicht erfolgen kann.

Ich frage mich «was ist denn da eigentlich passiert?» Warum ist diese Branche, die sich für gesundheitsrelevant empfindet, derart «lobbyfrei»? Aber, noch viel wichtiger, was hilft uns und was brauchen wir, um künftig als Gesundheitsdienstleister wahrgenommen zu werden – wenn wir das denn sein wollen?

Ja glaubt denn wirklich jemand, dass eine repräsentative Quote unserer Mitglieder dafür mobilisierbar ist, um für die Öffnung von Fitnessstudios zu skandieren? Wie haben denn die «Aus-Mitgliedern-Fans-machen»-Kampagnen gefruchtet? Bitte nicht falsch verstehen, denn jede Aktivität in diese Richtung ist sinnvoll und lobenswert! Doch was erwarten wir von der Politik, wenn noch nicht mal unsere bezahlenden Mitglieder für uns Stimmung machen?

Seit langem wissen wir, dass eine klare Positionierung, Qualität und Nachhaltigkeit wesentliche Ingredienzen für ein Erfolgsrezept sind. Man erreicht das nicht, indem sich während einer Pandemie plötzlich jede Einrichtung zum Gesundheitsanbieter (mit Verlaub, bisher Lifestyle-Club) und zum Immunsystem-Spezialisten (mit Verlaub, da sehe ich primär den Darm in der Verantwortung) erklärt. Das ist alles nur bedingt glaubwürdig. Und wenn dann auch noch zum Sturm auf die Regierung geblasen wird, dann nimmt die Politik diese Branche schlichtweg nicht ernst. Und unsere Mitglieder werden das auch nicht tun, wenn wir uns anders darstellen, als sie uns wahrnehmen. Da muss man sich schon fragen: «Sind wir gut genug»? Sind wir tatsächlich so gut wie wir uns gerade selbst erklären? Und falls wir uns nicht sicher sind, wie soll es denn die Politik erkennen, die noch so weit weg von uns ist?

Doch genau das ist jetzt auch eine unglaubliche Chance für diese so junge Branche, die sich in den vergangen 20 Jahren so schnell entwickelt hat. Denn erstens glaube ich wirklich daran, dass die Mitglieder das Studioleben vermissen. Sie sind zwar während der Pandemie nicht auf die Strasse gegangen, um für die Öffnung der Studios zu demonstrieren, aber sie vermissen den Treffpunkt, das Umfeld, die sozialen Kontakte, sie vermissen das «to see and to be seen»! Und nicht wenige haben in puncto Wohlgefühl und auf der Waage erfahren, was es bedeutet nicht mehr zu trainieren. Eine Mitgliederbefragung in einem meiner Clubs ergab, dass 97 Prozent derer, die uns geantwortet haben, wieder zum Training kommen werden, sobald wir wieder öffnen dürfen. Ich hoffe das stimmt so, denn auch wir haben zu viele Mitglieder verloren.

Und zweitens bin ich davon überzeugt, dass wir jetzt den Zeitgeist und die Chance nutzen können, um künftig als Gesundheitsanbieter wahrgenommen zu werden. Vielleicht hat Corona das Thema Gesundheit auch zum Vorteil unserer Branche sensibilisiert. Wir werden aber nicht als Gesundheitsanbieter wahrgenommen, weil wir laut schreien oder behaupten es zu sein, sondern weil wir es über Leistung, Qualität und eine klare Positionierung erreichen können. Wir sind erst dann «gesundheitsrelevant», wenn uns unsere Mitglieder so erleben und wenn die Ergebnisse stimmen. Dann gibt es Chancen von Arbeitgebern, Versicherungen, Krankenkassen und schlussendlich auch der Politik anders wahrgenommen zu werden.

In der gesamten Trainingswelt und auf dem Weg zum Gesundheitsanbieter wird auch die Digitalisierung einen wichtigen Platz einnehmen. Sie wurde durch Corona beschleunigt, war allerdings auch vorher längst da! Im Trainingsbereich wurde dies, meiner Ansicht nach, in der Vergangenheit allerdings oft zu wenig beachtet. Wir müssen unsere Mitglieder erkennen, um sie betreuen zu können. Dabei müssen wir auch erkennen, was sie von uns erwarten – stationär und remote. Die Systeme dafür sind bereits verfügbar, werden allerdings noch zu wenig genutzt und somit nicht gelebt.

Dazu passt die Frage: «Wie wichtig wird bzw. bleibt Home Fitness und Remote-Training»? Ja, ich glaube da wird etwas kleben bleiben – als Ergänzung zum Angebot im Studio. Hybride Modelle sind interessant und zeitgemäss. Aber Achtung: Es gibt einen Unterschied zwischen Home Office und Home Fitness. Home Fitness ist für mich ein wenig so, wie Home Urlaub. Balkonien mag ja ganz nett sein, aber ich schütte mir ja auch nicht 10 Eimer Sand in mein Wohnzimmer, um einen Sonnenschirm und einen Liegestuhl aufzustellen, um ein annäherndes Urlaubsgefühl zu erfahren.

Ich hoffe, dass sich die Branche nach der Wiedereröffnung nicht auf einen «Preis-Aktionismus» einlässt, um Kunden zu gewinnen. Da würde sie sich einen Bärendienst erweisen. Im Gegenteil. Ich hoffe, dass wir in vielen Fällen die Möglichkeiten erkennen, um sogar einen höheren Preis erzielen zu können und durch unsere Leistung unseren Preis wert sind.

Es muss (eigentlich darf) auch nicht jeder zu 100 Prozent auf die Gesundheitsschiene aufspringen. Die verschiedenen Zielgruppen haben unterschiedliche Ansprüche und Erwartungen. Sonst wird wieder alles verwässert. Niemand kann Everybody’s Darling sein. Selbstverständlich muss es die Plätze geben, wo Menschen trainieren, deren Antrieb vor allem die Attraktivität ist. Ich hoffe und erwarte, dass es Standards gibt, die einen Gesundheitsdienstleister auszeichnen, um die Subventionierung durch Firmen, Kassen und Versicherungen und die Akzeptanz durch die Politik zu erreichen. Die Kosten dafür müssen überschaubar bleiben, aber das Angebot im Markt «Gesundheit und Fitness» muss für den Endverbraucher klar erkennbar sein. Differenzierung statt Alleskönner. Kluge Allianzen von Gesundheitsangeboten statt Einzelkämpfertum. Die Kraft der Netzwerke nutzen, um als ein wichtiger Teil in einer umfassenden holistischen Gesundheitswelt zu gelten.

Ohne Zweckoptimist zu sein, bin ich positiv! Denn «jedem Anfang liegt ein Zauber inne» (Hermann Hesse) und so soll das auch bei einem Neuanfang sein. Ich wünsche uns allen die Nerven, die Geduld und die Mittel, um das gut zu überstehen. Für danach wünsche ich mir, dass sich die Branche und jeder Einzelne gute und sinnvolle Gedanken dazu gemacht hat, wie wir unsere Kunden, Mitglieder und Fans noch besser «servicen» können. Damit sie «draussen» gut über uns sprechen, damit sie sich erkannt fühlen und motiviert sind, damit sie uns weiterempfehlen und damit es ganz normal ist, also «The new Normal», dass man in einen «Gesundheitstrainigs-Club» – auch Fitnessstudio genannt – geht, um gesund zu bleiben und um sich wohlzufühlen.

Ich schreibe diese Zeilen aus Catania, wo ich gemeinsam mit meiner Partnerin Katharina einen vierwöchigen Italie-nisch-Sprachkurs belege und sehr viel arbeite. Es ist viel passiert in diesen 14 Monaten der Pandemie. Ciao!

Udo Münster

Udo Münster hat über 35 Jahre Erfahrung in der Sportartikel- und Fitnessbranche. Seine Schwerpunkte lagen in den Bereichen Marketing, Vertrieb und Branding. Die Fitness- und Trainingsbranche kennt er sowohl von der Industrie- als auch von der Betreiberseite. Ende 2019 zog er sich aus seinen operativen Tätigkeiten zurück und übernahm in Folge beratende Tätigkeiten. Heute beschäftigt er sich vor allem mit der Entwicklung neuer Konzepte und Lösungen für Trainingseinrichtungen.