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Rückencheck für eine funktionelle Trainingsplanung

Etwas für seinen Rücken zu tun und den Schmerzen entgegen zu wirken, das sind für viele Kunden Hauptgründe, warum sie überhaupt den Weg ins Fitnesscenter finden. Aber reicht bloss die Auswahl von ein paar Standard-Rückenübungen aus, um das Trainingsziel zu erreichen? Oder sollte man etwas differenzierter und methodischer an die Sache herangehen?

Eine fundierte trainingsrelevante Rückenanalyse ist hierbei sehr nützlich und bedarf nicht unbedingt eines Physiotherapeuten, sondern kann von den Trainern durchgeführt werden. Am Anfang sollte man sich über die mit der Rückenanalyse verfolgten Ziele im Klaren sein, so dass nur das Wichtigste im Prozedere erhoben wird. Diese Ziele wären:

Risikominimierung – Selektion von Risikokunden:

Die Anamnese und verschiedenen Tests sollten bestmöglich aufzeigen, welche Kunden für ein Training geeignet sind und welche vorab einer medizinisch-orthopädische  Abklärung bedürfen. Damit erspart man sich womöglich viel Ärger und schlechte Nachrede. Im Zweifelsfall immer eine medizinische und/oder physiotherapeutische Abklärung einholen.

Ist-Zustandsanalyse:

Für eine qualitativ hochwertige und funktionelle Trainingsplanung benötigt man zwingend Daten über unterschiedliche Parameter, ansonsten sind der Trainingsplan und das Ergebnis daraus ein Zufallsprodukt. Gibt es womöglich bereits Schmerzen bzw. eine Diagnose vom Arzt? Welche Defizite, Dysbalancen und Einschränkungen weist der Kunde auf? Antworten darauf muss eine profunde Analyse liefern. Man muss wissen, an welchen Stellrädchen man wie viel drehen muss.

Interpretation der Ergebnisse:

Daten, Fakten und Messergebnisse müssen richtig interpretiert werden und in einen funktionellen Trainingsplan münden, der genau auf den Kunden abgestimmt ist.

Kundenmotivation und Marketing:

Erst wenn Kunden schwarz auf weiss sehen, wie es um sie steht und  was jetzt zu machen wäre, erkennen sie den Mehrwert aus dem Training und der begleitenden Dienstleistungen. Re-Tests zeigen plakativ den Trainingsfortschritt auf und geben zusätzliche Motivation für das Weitermachen.   

Inhalte einer Rücken Ist-Zustandsanalyse:

  • Anamnese
  • Form und Beweglichkeit der Wirbelsäule und des Beckens
  • Beweglichkeit der grossen Gelenke
  • Funktion und Kraftausdauerfähigkeit der segmentalen Stabilisationsmuskulatur
  • Kraftfähigkeit der haltungsrelevanten globalen Muskulatur
  • Muskuläre Dysbalancen und Defizite

Ein gutes Anamnesegespräch beinhaltet u.a. folgendes:

  • Diagnose – wenn es diese gibt
  • Medikation
  • Trainingsfreigabe vom Arzt vorhanden
  • Derzeit in Behandlung?
  • Trainingszustand
  • Wenn Beschwerden, welcher Art in der LWS, BWS, HWS und Becken?
  • Schmerzonen in der LWS, BWS, HWS und Becken
  • Beschwerdeintensität
  • Beschwerderegelmässigkeit
  • Allgemeine körperliche Leistungsfähigkeit
  • Allgemeines psychisches Wohlbefinden

Alles zusammen mündet in eine Gesamtbewertung der Anamnese Rücken. Es könnte durchaus sein, dass nach dem Anamnesegespräch klar wird, dass eine zusätzliche medizinische Abklärung wichtig wäre.

Als nächster Schritt erfolgt ein Wirbelsäulenscreening zur Erhebung der wichtigsten WS Parametern zur Trainingsplanerstellung:

Eine Haltungs- und Funktionsanalyse der Wirbelsäule kann manuell von erfahrenen Therapeuten oder apparativ vom Trainer mittels geeigneter Messgeräten durchgeführt werden. Diese analysieren einerseits  die Haltung in verschiedenen Positionen, andererseits messen sie die Beweglichkeit und Funktionalität in der Bewegung sowie die Stabilitätsfähigkeit der WS. Zudem interpretieren sie automatisch die Messergebnisse, zeigen Auffälligkeiten an und empfehlen bereits Trainingsübungen aufgrund der Messwerte.  Die wichtigsten Parameter sind:

  • Form der WS in verschiedenen Positionen (aufrecht, vorgebeugt, in Rück- u. Seitneigung)
  • Beweglichkeit der WS und der Hüfte
  • Haltungsstabilität

Beweglichkeit der grossen Gelenke:

Die Beweglichkeit der grossen Gelenke haben einen wesentlichen Einfluss auf die Form und Funktion der Wirbelsäule. Z.B.: eine verkürze ischiocurale Muskulatur schränkt beispielweise die Hüftbeweglichkeit beim Bücken ein, was oft mit einer besonders starke Krümmung in der LWS kompensiert wird (mit einer Überbeweglichkeit in der LWS).

Mit manuellen oder apparativen Muskelfunktionstests können diese muskulären Defizite und Dysbalancen sehr leicht und schnell eindeutig bestimmt werden. Folgende Tests sollten zumindest in einem guten Testprofil nicht fehlen:

  • Waden
  • Beinbeuger
  • Beinstrecker (2-gelenkig testen)
  • Vordere Oberschenkelmuskulatur
  • Piriformis/Gesäss
  • Brustmuskulatur
  • Schulterblattheber

Funktion und Kraftausdauerfähigkeit der tiefliegenden Stabilisationsmuskulatur:

Aufgrund von Rückenschmerzen und Verkümmerung können Rückenpatienten die wichtige wirbelsäulennahe Haltemuskulatur (M. transversus u. Mm. Multifidii) nicht mehr ansteuern, verfügen somit über keine segmentale Stabilität und haben keine motorische Kontrolle mehr über Lendenwirbelsäule und Becken. Daher sollte im Rahmen eines Rückenchecks auf alle Fälle die Funktionsfähigkeit getestet werden.  Das sind wenige einfache Tests, die auf der Liege mit dem Probanden durchgeführt werden können aber wichtige Erkenntnisse liefern.

Würde man darauf verzichten und bei einem muskulären und koordinativen Defizit gleich mit herkömmlichem Krafttraining starten, dann würden sich sehr wahrscheinlich die Probleme noch verschlimmern.

Kraft der haltungsrelevanten globalen Muskulatur:

Wie schon eingangs erwähnt, resultiert ein  Grossteil der Rückenschmerzen aus muskulären Defiziten und Dysbalancen der segmentalen und globalen Muskeln. Möchte man im zweiten Schritt die globale Muskulatur unter die Lupe nehmen, so kommt man um eine profunde Kraftanalyse nicht herum. Das Kraftniveau manuell bei relativ gesunden Probanden zu testen, ist ein schwieriges Unterfangen und liefert keine validen Werte. Deshalb kommen in professionellen Einrichtungen apparative Messgeräte zum Einsatz. Mittlerweile gibt es eine Vielzahl von Gerätschaften dafür am Markt. Wenn man sich für den Einsatz eines solchen Gerätes entscheidet, dann gibt es ein paar Punkte, die man vor der Anschaffung beachten sollte:

  1. Die Bedienung des Gerätes und die Einstellung des Probanden sollten einfach und zügig gehen.
  2. Die Messtechnik und die Gerätekonstruktion müssen ein relativ risikoloses Testen erlauben und die Verletzungsgefahr reduzieren. Wer möchte schon einen Bandscheibenvorfall in seinem Betrieb provozieren. Gerätschaften, die isometrisch die Maximalkraft messen und in stehender Position (bei aufrechtem Becken und ohne Schärkraftbelastungen zwischen den Wirbeln) messen, haben hier einen klaren Vorteil.
  3. Messmöglichkeiten verschiedener Muskelgruppen sind von Vorteil

Folgende Muskelgruppen/Muskelschlingen sollten in einem Standard-Rückencheck beinhaltet sein:

  • Rumpf Flexion/Extension
  • Rumpflateralflexion links/rechts
  • Drücken/Ziehen
  • Ergänzend dazu bei Bedarf:
    • Beinabduktion und Beinadduktion
    • Hüftstreckung
    • Messungen der HWS Muskulatur würde ich eher nur Spezialisten vorbehalten, da hier das Verhältnis vom Risiko zur gewonnenen Erkenntnis deutlich auf der Risikoseite liegt.

Die Interpretation:

Zusammengefasst kann man sagen:

Eine profunde Rückenanalyse im Fitnesscenter legt grundsätzlich einmal fest, welcher Kunde gleich ins Training darf oder wer zuerst einen Termin beim Arzt und Orthopäden absolvieren sollte.

Geht es Richtung Training, dann wissen wir anhand der gewonnenen Daten genau Bescheid, welche Übungen wie und wann gemacht werden müssen. Das heisst im Speziellen, wir wissen welche Bereiche der Wirbelsäule mobilisiert bzw. stabilisiert werden müssen. Und wenn wir uns ans Stabilitäts- und Krafttraining machen, dann wissen wir, ob wir zuerst segmental und erst danach mit globalem Muskeltraining starten oder doch gleich voll ins Training einsteigen können. Ausserdem erlangen wir Erkenntnis darüber, ob eventuell ein isometrisches, dem dynamischen Krafttraining zu bevorzugen wäre, da wir sonst eine vorhandene Überbeweglichkeit in der Wirbelsäule eher verstärken und fördern und nicht dieser entgegenwirken.

Ein Beispiel: Herr Huber ist Büroangestellter und arbeitet mehrere Stunden am Tag am Bildschirm. Grundsätzlich ist er ein sportlicher Typ und geht auch gerne joggen. Jedoch hatte er vor ca. einem Jahr einen Bandscheibenvorfall, der in der Physiotherapie behandelt wurde. Danach war er nicht mehr der Alte, denn es zwickt und zwackt immer wieder. Der Arzt sagte ihm, er könne strukturell nichts Auffälliges finden und deshalb solle er ein gezieltes Rückentraining machen. Deswegen macht sich Herr Huber auf den Weg ins Fitnesscenter.

Bei seinem ersten Termin mit dem Trainer bringt Herr Huber sein Leiden und seine Wünsche vor.

Im Rahmen des standardisierten Anamneseprotokolls  macht sich der Trainer ein klares Bild von Herrn Huber. Herr Huber hatte einen Bandscheibenvorfall im Bereich L4/L5. Er wurde therapiert und danach hat er wieder sporadisch Sport betrieben. Momentan gibt es Schmerzen in diesem Bereich, morgens ist er meist ziemlich steif. Gegen Nachmittag treten die Schmerzen und Verspannungen meist häufiger auf und dazu kommen auch Schmerzen im Bereich des oberen Rückens unter dem Schulterblatt.

Das apparative Wirbelsäulenscreening bringt Folgendes zu Tage:

Der bereits sichtbare Rundrücken ist stark ausgeprägt, die Hüftbeweglichkeit beim Nachvornebeugen eingeschränkt (durch die verkürzte hintere Oberschenkelmuskulatur). Die natürliche Lendenlordose ist weitgehendst aufgehoben. Und wenn sich Herr Huber nach vorne beugt, dann findet diese Beugung in der LWS nahezu nur zwischen dem ersten und zweiten Lendenwirbel statt. Die restlichen vier Segmente der LWS weisen kaum eine Beweglichkeit auf. Beugt sich Herr Huber jedoch nach hinten, dann findet nahezu sämtliche Beweglichkeit zwischen L4/5 und L5/S1 statt. Alle genannten Segmente weisen zudem eine Überbeweglichkeit auf.

Der manuelle Muskelfunktionstest ergibt, dass die Hüftbeuger sowie die vordere und hintere Oberschenkelmuskulatur stark verkürzt sind. Des Weiteren sind auch die Brustmuskulatur und der Schulterblattheber verkürzt.

In weiterer Folge testet der Trainer nun die Funktion und Kraftfähigkeit der Muskulatur.

Beim Test der tiefliegenden Haltemuskulatur (M. Transversus u. M. multifidii Tests) wird ersichtlich, dass Herr Huber seine tiefen Haltemuskel gar nicht aktivieren kann, schon gar nicht eine längere Spannung aufbauen kann. Damit ist auch klar, woher seine Überbeweglichkeit in einzelnen Segmenten der LWS kommt.

Beim apparativen Krafttest kommt heraus, dass die Kraftwerte eigentlich gar nicht so schlecht sind, jedoch gibt es eine ziemliche muskuläre Dysbalance zwischen der Beuge- und Streckerschlinge (Rumpf Flexion/Extension) zu Ungunsten der Bauchmuskulatur sowie bei beim Drücken und Ziehen bei den oberen Extremitäten.

Jetzt stellt sich die Frage, wie soll der Trainer das Training anlegen? Eine Trainingsfreigabe vom Arzt gibt es ja bereits.

Aufgrund der Funktionseinschränkung der tiefliegenden Haltemuskulatur und den Bewegungseinschränkungen im Becken- und Lendenwirbelsäulenbereich entscheidet sich der Trainer zu Beginn für ein segmentales Stabilisationstraining. Begründung: Die tiefliegende Muskulatur verfügt über eine einzigartige Funktion, sie spannt an und stabilisiert damit die Wirbelsäule vor Eintritt einer Belastung. Diese „Feed forward contraction“ geht bei Rückenpatienten aufgrund des Schmerzes verloren und muss wieder reaktiviert werden. Ergänzend dazu kommt ein Mobilisations- und Detonisierungsprogramm (Beweglichkeits- u. Faszientraining).

Der Trainer vermeidet bewusst ein herkömmliches Krafttraining, da die Wissenschaft zeigt, dass dieses in dieser Phase der „Instabilität“ kontraproduktiv ist und das Problem nur vergrössert. Er geht davon aus, dass er in den ersten paar Wochen das Problem gelöst hat und dann sich nachfolgend durch ein Kombinationstraining von tiefliegender und globaler Muskulatur an die Dysbalancen der Bewegungsmuskulatur heranmachen wird. Er geht auch davon aus, dass durch das vorangegangene Training sich die Überbeweglichkeit in den einzelnen Segmenten der LWS verbessert hat und sich alle Segmente im Rahmen der Normwerte gleichmässig bewegen werden.

Erst dann dürfte Herr Huber mit einem dynamischen Rumpfmuskel-Krafttraining starten. Wäre das Problem noch nicht behoben, dann würde der Trainer auf ein isometrisches Rumpfmuskeltraining setzen und nur kleine Bewegungsamplituden zulassen. Ansonsten würde man das ursprüngliche Problem der Überbeweglichkeit zwischen den Segmenten nur wieder fördern.