Editorial Fitness Tribune – 194
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Gefühle sind auch unanständig

In dieser Kolumne geht es um mentales Gewichtheben. Wahre Fitness trainiert beides. Physische als auch psychologische Muskeln. Viel Spass beim neuronalen Schwitzen.

In meiner Kolumne in der letzten FITNESS TRIBUNE mit dem Titel «Alle Menschen handeln sinnvoll», habe ich dargelegt, dass unser Gehirn grob gesehen über zwei Systeme verfügt. Als Erinnerung ist nochmals die Skizze A abgebildet. Beide Systeme haben ihren separaten Bereich im Gehirn und funktionieren durchaus auch synergistisch, doch meist mehr antagonistisch. System 1 ist alt, beherbergt Gefühle, agiert im Moment und es ist SCHNELLES Denken. System 2 ist neu, rational, antizipiert und plant. Verglichen mit System 1 ist es LANGSAMES Denken.

Ausserdem haben wir gesehen, dass kein Mensch irrational handelt. Das Gehirn hat für jedes Verhalten seine Gründe. Je nachdem führt System 1 oder 2 Regie und somit kann unser Verhalten ganz unterschiedlich ausfallen. Menschen machen im Leben bizarre Dinge. Manche spielen Lotto; andere heiraten sogar. Die Lottospieler denken: Die Chance auf einen Sechser beträgt 1 zu 14 Millionen – es könnte mich treffen. Die frisch Verheirateten denken: Fast die Hälfte der Ehen werden geschieden. Doch das wird uns sicher nicht betreffen, denn wir lieben uns ja so sehr…

So ist der Mensch. Wir sind weder gescheit noch dumm. Wir sind beides. Wir können in einem Bereich hochintelligent agieren und in einem anderen beeindruckend naiv. Der Mensch ist Störfall und Glücksfall zugleich. Wir sind keine Maschinen, sondern Mysterien. Wenn wir ehrlich sind, auch für uns selbst. Die beiden unterschiedlichen Systeme in uns können sich bekriegen (das geht automatisch) oder sich befrieden. Letzteres geht nur über Wissen und mentalem Training.

Wir Menschen identifizieren uns vor allem mit unserem bewussten Denken. Das Gehirn arbeitet jedoch zu ca. 95 Prozent übers Unterbewusstsein (System 1). Alltägliche Sachen wie Zähneputzen, Essen, Laufen oder auf die Tastatur des Computers hauen; das alles läuft im Normalfall mit System 1. Jeder der ein Auto hat, kennt folgende Situation: Man fährt abends vom Job nach Hause und denkt an den Ärger zurück, welche man den ganzen Tag lang erlebte. Plötzlich bemerkt man, dass man gerade das eigene Auto vor dem Haus parkt. Auf der ganzen Heimfahrt, die vielleicht 30 Minuten dauerte, sinnierte man über die Geschehnisse im Job (System 2) während man völlig unbewusst (System 1) vielen Autos erfolgreich auswich und die Verkehrsampeln richtig deutete. Ohne Unterbewusstsein wären wir nicht überlebensfähig. Im Unterbewusstsein spielt sich auch sehr viel Triviales und Alltägliches ab.

Bitte beachten Sie Skizze B. Es zeigt zwei Kreise, mit den Systemen 1 und 2. System 1 ist grob gesehen unser Unterbewusstsein und das System 2 unser Bewusstsein.

Hand aufs Herz: Wissen wir, was wir in 10 Sekunden denken werden? Nein, das wissen wir nicht, denn es kommt auf die die Situationen bzw. die Reize an, die das Gehirn in jedem neuen Moment erlebt. Unser Gehirn erfährt Reize und daraus folgen unsere Reaktionen (siehe C). Da das Unterbewusstsein (System 1) ca. fünfmal schneller als das Bewusstsein (System 2) ist reagieren wir oft wie ein Reiz-Reaktions-Automat. Sie kennen sicher das Beispiel mit der Hand auf der heissen Herdplatte. Noch bevor sich das Bewusstsein einschaltet, hat System 1 die Hand (zum Glück) bereits zurückgezogen.

Wer Teamsport betreibt, der weiss, dass manch grobes Foul oder derbe Schimpfwörter «aus den Emotionen heraus» kommen können. Auch im Strassenverkehr sind reflexhaft ausgestreckte Mittelfinger keine Seltenheit. Unser Gehirn wird gereizt und das schnelle System 1 mit den Emotionen und den Modi Kämpfen oder Flüchten übernimmt sofort.

Kleine Kinder leben noch voll im System 1, da sich das System 2 erst später entwickelt (siehe D). Deshalb erleben sie quasi durchgehend emotionale Gewitter wie z. B. Lachen, Weinen und Schreien, die sich binnen Sekunden abwechseln können.

Gemäss den Neurophysiologen ist das Areal von System 2 (präfrontaler Cortex) erst mit ca. 24 Jahren voll ausgereift. Das erklärt, dass auch bei Teenagern oft emotionale Tsunamis wüten und ein simples Schwarz-Weiss-Denken regiert.

Natürlich gibt es auch bei den Erwachsenen individuelle Unterschiede (siehe E). Es gibt Menschen, die eine «dickere» Schicht beim System 2 haben als andere. Sie werden als Denker oder als rationale Menschen bezeichnet. Menschen mit einer «dünnen» Schicht sind dann sogenannte intuitive Menschen, die impulsiv reagieren. Das Ganze hat genetische Gründe. Aber nicht nur. Wissen und mentales Training formen auch unser System 2.

Als Menschen sind wir Animal-Plus-Geschöpfe. Dank dem System 2, können wir uns z. B. Erinnern, Lernen, Problemlösen, Planen, Wissen weitergeben usw. Deshalb konnte der homo sapiens die Weltherrschaft unter den Säugetieren einnehmen.

Wie kann ich nun erkennen, welches Denk-System in mir gerade federführend ist? Das geht ganz einfach, in dem man sich fragt: Mag ich es so zu denken, wie ich gerade denke oder gedacht habe? System 1 als Emotions-Hochburg denkt gerne katastrophisch und in Aggressionen, Zorn und vor allem in Angst. Angst ist ein mächtiger Player. Nur das System 2 kann relativeren, nach cleveren Lösungen suchen, die weder gewalttätig oder in derbe Fluchwörter gekleidet sind.

Wir können das System 2 mit verschiedenen Werkzeugen stärken. Meditation, Visualisierungen oder Auto-Suggestionen gehören dazu. Auch Lernen bzw. Wissen hilft, dass wir ruhig und gelassen mit der Welt und mit uns umgehen. Glaubenssätze können als Kraftfresser aber auch als Kraftspender dienen. Wir können mit bewussten Gedanken auch das Unterbewusstsein beeinflussen. Fragen Sie sich: Wenn ich mit mir alleine bin – bin ich da auch in guter Gesellschaft? Wie wir gesehen haben, sind wir nicht von Haus aus ein Herz und eine Seele.

Das Unterbewusstsein serviert unserem Bewusstsein ständig Gedanken. Diese Pop-ups sind oft sprunghaft, ja gar chaotisch. System 1 ist eben autonom. Normalerweise können wir nicht nichts denken. Wer schon einmal versucht hat, bloss fünf Minuten einfach nur da zu sitzen, der weiss, dass immer wieder Pop-ups vom Unterbewusstsein ins Bewusstsein gelangen. Unser Gehirn produziert ständig Gedanken. Bei der Skizze F habe ich das illustriert. Plötzlich denkt man an das Geschäft. Kurze Zeit später an den Nachbarn, einige Zeit später ist das Wetter das Thema und dann kommt uns etwas von gestern in den Sinn. Unser Hirnkino läuft ständig und das ist normal, denn es ist unser biologisches Gepäck.

Würden wir reflexhaft alles ausführen, was uns System 1 auftischt, dann wären wir – und das ist jetzt sehr wichtig – NICHT authentisch. Denn bei uns ist auch das System 2 in der Software eingebaut. Dieses wirkt quasi als Aussenminister, der nach aussen verhandelt. Pointiert ausgedrückt. Tiere sind authentisch. Wir Menschen sind es nicht.

Wir Menschen müssen unsere beiden Systeme immer wieder in Einklang bringen. Das geht nur über eine «Mischrechnung». Überlegen Sie: Totale Offenheit bzw. «maximale Authentizität» wäre in vielen Alltags-Situationen völlig deplatziert. Wir verhalten uns im Umgang mit anderen immer auch taktisch. Und das ist gut so. Wenn Ihr System 1 denkt: Dem anderen möchte ich so richtig die Fresse polieren, dann ist es sinnvoll, dass System 2 die Folgen dieser Aktion in Betracht zieht und Sie dann von der Prügelei absehen.

Zudem haben wir zwei Selbst in uns. Ein privates und ein öffentliches Selbst. Das öffentliche Selbst ist keine gebastelte, aber doch eher eine formelle Instanz. Vergessen wir nicht: Wir werden bei der Arbeit nicht dafür bezahlt, wer wir sind, sondern dafür, dass wir eine Rolle übernehmen. Deswegen muss man seine Rolle kennen. Die meisten von uns haben wohl schon Chefs erlebt, die ihren Gefühlen freien Lauf liessen und sich flegelhaft verhielten. Dabei waren sie maximal authentisch. Wodurch lässt sich dieses Verhalten aber rechtfertigen? Weil sie Chefs waren? Dann wird es nur noch lächerlich. Deswegen ist es mehr als nützlich, dass wir unsere eigenen Gefühle (System 1) über das System 2 bewirtschaften. Wer das nicht schafft, der wird zum Störfall. Für sich und für andere.

Mit dem wohlklingenden Wort Authentizität oder dem Slogan «mehr Gefühle zeigen» sollten wir keinen gedankenlosen Umgang pflegen. Maximale Authentizität gegenüber sich selbst mag noch erstrebenswert sein. Gegenüber anderen ist sie es nicht. Es ist nur unanständig.

Auf der Arbeit brauchen wir auch eine Distanz vor unseren eigenen Launen, Reflexen und unserem Ärger. Wenn jemand keine Gefühle zeigt, bedeutet das noch lange nicht, dass er keine hat. Vielleicht hat er einfach ein gutes Gefühlsmanagement. Kein Mensch ist ein emotionaler Kühlschrank, denn das System 1 ist eine mächtige biologische Mitgift.

Ich arbeite nun seit über 10 Jahren beim FC Thun. Es ist ein Traumjob für mich. Aber es ist keineswegs so, dass ich deswegen jeden Tag mit der olympischen Fackel zur Arbeit fahre. Im Job gewinnen wir bereits sehr viel, wenn wir «professionell» und zuverlässig sind. Wenn wir halten, was wir versprechen, dann werden wir von den anderen schnell respektiert. Eine grosszügige Portion an Freundlichkeit, die mit den Wörtern «Bitte» und «Danke» garniert wird, verfeinert die Basis für eine gute Zusammenarbeit.

Wenn Sie das, was Sie anderen sagen auch meinen, dann haben Sie genügend Authentizität erbracht. Unsere Zweifel, unsere Frustrationen oder interne Konflikte gehen die Öffentlichkeit kaum etwas an. Die lebensbegleitende Synthese von System 1 und 2 im eigenen Gehirn gehen nur Sie und Ihren engsten Kreis etwas an. Und falls Sie dafür einmal professionelle Unterstützung brauchen: Betrachten Sie diese als Krücken. Krücken sind situativ und punktuell wertvoll. Aber am besten sind Krücken, wenn man sie wieder weglegen kann.

Eric-Pi Zürcher

War früher über Jahre als Personal Trainer tätig und arbeitet nun beim FC Thun als Konditionstrainer.

E-mail: eric-pi@bluewin.ch