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Deutschland: Pandemie der Inaktivität

Das ist doch alles nicht mehr normal! Wie oft habe ich das in den vergangenen 14 Monaten gehört?!

Die Covid-19 Pandemie ist ein aussergewöhnlicher, globaler Notfall, welcher zu beispiellosen Massnahmen geführt hat, um die Verbreitung des Virus zu verhindern. Die deutsche Bundesregierung regiert seit 12.3.2020 mittels Ministerpräsidentenkonferenzen an einigen Wissenschaftsdisziplinen vorbei, um die Massnahmen wie Reiseverbote, Grenzschliessungen, Quarantäne, Soziale Distanzierung und Unternehmensschliessungen in der Freizeitbranche zu verordnen. Dass unsere Gesundheit in Zeiten der Corona-Krise oberste Priorität haben sollte, steht grundsätzlich ausser Frage. Aber es drängt sich immer stärker der Verdacht auf, dass die gesundheitlichen, langfristigen Kollateralschäden der Massnahmen, die Schäden, die durch eben diese Massnahmen verhindert werden sollten, übersteigen. Ausserdem ist es ein fundamentaler Fehler, dass in den öffentlichen und politischen Diskussionen ein biomedizinisches Modell bzw. ein pathophysiologisches Modell zur Operationalisierung von Gesundheit herangezogen wird. In der WHO-Charta wurde am 21.11.1986 in Ottawa das Salutogenese Modell von Aaron Antonovsky als Definition von Gesundheit festgelegt. Dieses besagt: «Gesundheit ist ein biopsychosoziales Gleichgewicht und mehr als die Abwesenheit von Krankheit». Politische Entscheidungsträger sollten sich, wenn sie Gesundheit sichern und fördern wollen, mit allen Dimensionen der Gesundheitsförderung bzw. -minderung über einen zeitlich erweiterten Horizont auseinandersetzen:

Die Priorisierungen im Gesundheitsschutz als auch in der Eröffnungsstrategie sind in Frage zu stellen. Doch alleine das Verhindern von pathogenen Faktoren reicht für die Volksgesundheitssicherung nicht aus. Sollten nicht salutogene Faktoren gezielt gefördert werden um, Schutzfaktoren aufzubauen und somit auch eine Verkleinerung der Risikogruppe erreichen zu können?

Falsche politische Entscheidungen bei der Impfstoffbeschaffung, bei der Organisation und Gestaltung von Schnelltests, der Einreiseregulierung sowie Regulierungen im Arbeitsbereich (Home-Office-Bitte) und eine schlechte digitale Nachverfolgung führten dazu, dass die einzige Möglichkeit das Pandemiegeschehen zu bremsen, ein Lockdown nach dem anderen ist. Die Massnahmen führten zu psychischen und physischen pathogenen Faktoren. Die Reduktion der physischen Aktivität und ein verändertes Ernährungsverhalten beschleunigt potentiell Sarkopenie. Die Muskelmasse wird nicht nur weniger, sondern auch dysfunktionaler. Diese Veränderungen steigern das Risiko für chronische Erkrankungen, wie kardiovaskuläre Erkrankungen aller Art (Todesursache Nr. 1), Diabetes Mellitus Typ II (verursacht jeden 5. Todesfall), Osteoporose, stärkeren kognitiven Leistungsabbau, rezidive orthopädische Verletzungen und Depressionen. Hierdurch entsteht auch ein erhöhtes Risiko einer Covid-19 Infektion. Die Massnahmen führen somit direkt zu einer Verschlechterung des allgemeinen Gesundheitszustandes der Bevölkerung und indirekt sogar zu einer Erhöhung der Covid-19 Infektionen. Es ist mehr als unverständlich, dass die Bundesregierung sich kürzlich dazu geäussert hat, dass es zum einen keinen signifikanten Rückgang der körperlichen Aktivität gäbe und zum anderen, dass Alltagsaktivitäten wie Gartenarbeit, längere Spaziergänge oder Radfahren dieselbe Wirkung haben sollen. Insbesondere für Menschen mit orthopädischen oder internistischen Kontraindikationen stellen solche Vorschläge keine Alternative dar, um den Bewegungsapparat, das Herz-Kreislaufsystem und das Immunsystem positiv zu beeinflussen. In vielen Fällen ist das Überlassen der Eigenverantwortung sogar fahrlässig, da aufgrund von Vorerkrankungen ein angepasstes und überwachtes Training notwendig ist. Angesichts der hier dargestellten wissenschaftlichen Argumente wirkt das Handeln der Regierung weltentrückt. Mittlerweile bestätigen erste internationale Untersuchungen die prognostizierte reduzierte körperliche Aktivität aufgrund der Corona-Massnahmen, infolgedessen ein erhöhtes Gesundheitsrisiko besteht. Die Darstellung in Abbildung 1 verdeutlicht: Deutschland musste bereits vor der Pandemie gesünder werden.

Abbildung 1: Typische Zivilisationserkrankungen in Deutschland (eigene Darstellung)

Im Jahr 2018 waren in Deutschland 51,8 Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter zwischen 20 und 66 Jahren. Das Erwerbspersonenpotential ist seit 1995 rückläufig. Ab 2020 wird es verstärkt schrumpfen und deutlich altern. Bereits heute ist mehr als jede vierte Person älter als 60 Jahre. Dem Erhalt der Arbeitsfähigkeit kommt hierbei eine essentielle Rolle zu, um die Volkswirtschaft Deutschlands leistungsfähig zu halten. Die Arbeitsfähigkeit bezeichnet die Summe von Faktoren, die einen Menschen in einer bestimmten Arbeitssituation in die Lage versetzt, die ihm gestellten Arbeitsaufgaben erfolgreich zu bewältigen. Die Arbeitsfähigkeit beschreibt, inwiefern ein Arbeitnehmer in der Lage ist, seine Arbeit angesichts der Arbeitsanforderungen, Gesundheit und mentaler Ressourcen zu erledigen. Durch Arbeitsunfähigkeit gehen jährlich 133 Mrd. Euro verloren. 76 Prozent der Ausfälle liessen sich durch Prävention verhindern. 40 Prozent der Arbeitsunfähigkeitskosten liessen sich durch effizientes Management von Gesundheit und Sicherheit vermeiden. Trotzdem stiegen die Prävalenzzahlen aller Zivilisationskrankheiten bereits vor Beginn der Coronakrise. Alleine Diabetes Mellitus Typ II weist eine Steigerung von 38 Prozent im Vergleich zu 1998 auf. Die Deutsche Diabetes Föderation e.V. schlug bereits vor der Corona-Pandemie Alarm ohne grosse Beachtung der Politik zu erfahren. Seit Corona beschleunigte sich die Ausbreitung aller Zivilisationskrankheiten.

Wenn jemand infiziert wird, trotz aller Massnahmen, dann ist es von enormer Bedeutung, dass die betroffene Person eine möglichst hohe Gesundheit bzw. ein möglichst starkes Immunsystem aufweist. Eine US-Studie belegt klar, dass regelmässiger Sport das Risiko für schwere Covid-Erkrankungen und Tod durch Covid sehr stark reduziert. Diejenigen, die nie Sport machen, haben im Vergleich zu Sportlern eine dreifach höhere Sterblichkeit. Das Robert-Koch-Institut stellte fest, dass 51,9 Prozent der Bevölkerung der Risikogruppe angehören. Insbesondere für diese ist die Bedeutung der Gesundheitsförderung in diesen Zeiten kaum überbewertbar, da sich die Risikofaktoren sowohl für Corona als auch für Zivilisationskrankheiten beeinflussen liessen. Bemerkenswert hierbei sind auch die sozio-ökonomischen Unterschiede, welche in Abbildung 2 impliziert werden und durch Wachtler et al. bestätigt werden.

Vor dem Hintergrund, dass die Inanspruchnahme von Früherkennungsuntersuchungen und die Nutzung von gesundheitsfördernden Massnahmen einen ähnlichen sozioökonomischen Unterschied aufweisen, ist es essentiell für die Pandemie diese auch während des Lockdowns zu ermöglichen. Durch das Verbieten sämtlicher präventiver Angebote in Fitness- und Gesundheitseinrichtungen sowie des Vereinssports, werden Gesundheitsförderungswilligen die Anlaufstellen genommen, welche Gesundheit auch ganzheitlich im Sinne Antonovskys fördern. Hierbei gilt die Einhaltung aller Hygieneauflagen bei beherrschbarem Infektionsgeschehen als kontrollierbare Voraussetzung. Aktuell gibt es drei Studien, welche das Infektionsrisiko in Fitness- und Gesundheitseinrichtungen beurteilten. Eine als Laborversuch, welche eine theoretische Annährung ohne Kontrollgruppe darstellt und eine Feldstudie mit knapp 60’000 Besuchen als Testpopulation. Erste kam zu der Erkenntnis, dass das Risiko in Fitness- und Gesundheitseinrichtungen 3,4-mal höher ist als im Supermarkt. Zweitere konnte eine Inzidenz von 0,78 auf 100’000 Besucher belegen. Beide Settings setzten voraus, dass keine Maske während dem Sport getragen wird und dass keine Schnelltests und Virenfilter vorhanden sind. Bemerkenswert ist die Studie von Helsingen et al. in der in Oslo eine Versuchs- und eine Kontrollgruppe gebildet wurden. Die Versuchsgruppe musste sich an spezielle Hygieneregeln halten. Die Kontrollgruppe musste im Lockdown bleiben. Bei den 1868 trainierenden Probanden kam es zu einer Infektion, welche dann nachweislich im beruflichen Umfeld des Probanden übertragen wurde und nicht in der Sporteinrichtung. Im Anbetracht der Vorteile einer Öffnung eine zu hinterfragende Begründung der Verbote.

Abbildung 2: Anteil der Risikogruppen bzw. Hochrisikogruppen in Abhängigkeit vom Bildungsgrad (RKI, 2021)

Die Empfehlung der WHO zur regelmässigen physischen Aktivität wurde kürzlich aktualisiert. Dort werden mindestens 150 bis 300 Minuten physische Aktivität in moderater bis hoher Intensität empfohlen. Zusätzlich wird empfohlen, an zwei oder mehreren Tagen in der Woche Krafttraining von mindestens moderater Intensität umzusetzen, welches alle wichtigen Muskelgruppen umfasst. Älteren Menschen (fast 25 Prozent der Deutschen Bevölkerung) wird empfohlen, den Fokus zusätzlich auf Gleichgewicht sowie Koordination zu legen – und dies an mindestens drei Tagen pro Woche. Selbst der Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus sagte «Körperlich aktiv zu sein, ist entscheidend für Gesundheit und Wohlbefinden – es kann dem Leben mehr Jahre und den Jahren mehr Leben bringen». Die Zeit der Inaktivität (bspw. durch Homeoffice oder Lockdown) ist ein signifikantes Frühwarnzeichen für spätere negative Gesundheitsfolgen. Durch jede Stunde Sitzen wird geschätzt, dass die jährlichen Gesundheitskosten von älteren Erwachsenen um 126 US-Dollar steigen. Daher hat die WHO in einem globalen Aktionsplan physische Inaktivität als eines der kritischsten Erkrankungsrisiken benannt und das Ziel bis 2025 gesetzt, die Prävalenz in Relation zu 2013 um 10 Prozent zu reduzieren. Wissenschaftliche Schätzungen ergaben, dass zwischen 3,9 Millionen und 5,3 Millionen Tote jedes Jahr durch einen aktiven Lebensstil verhindert hätten werden können. Obwohl die genauen Auswirkungen der Covid-19 Pandemie inkl. der Massnahmen der Regierung auf die physische Aktivität noch nicht umfassend bewertbar sind, soll hervorgehoben werden, dass die aktuellen Massnahmen die körperliche Aktivität reduzieren, die Zielsetzungen der WHO nicht erreicht werden können und dies zu einer Verschlechterung der Volksgesundheit führt. Hierdurch wird die Risikogruppe weiterwachsen und die negativen Auswirkungen zukünftiger Wellen oder Pandemien wachsen. Der vernachlässigte Kampf gegen Zivilisationskrankheiten und den demografischen Wandel werden erhebliche volksökonomische Konsequenzen nach sich ziehen. Ein Gesundheitstraining sollte trotz hohen Infektionsgeschehens ermöglicht werden, sofern adäquate Hygiene- und Abstandsregeln eingehalten werden.

Daher werden folgende Forderungen formuliert:

  1. Salutogen wirkende Dienstleistungen müssen für eine effektive Pandemiebekämpfung in der Öffnungsstrategie priorisiert werden, wenn Sie einen umfangreichen Hygieneschutz bieten können.
  2. Die Präventionsgesetze §20 SGB V und Rehabilitationsgesetze § 43 SGBV sollten deutlich ausgebaut werden, um Spätfolgen von Corona, die ansteigenden Zivilisationskrankheiten und den demografischen Wandel besser im Sinne der volkswirtschaftlichen Leistungsfähigkeit bewältigen zu können.
  3. Eine Bewegungs- und Ernährungskampagne sollte bereits bei beherrschbarem Infektionsgeschehen initiiert werden um die gesundheitlichen Kollateralschäden möglichst gering zu halten.
  4. Sport muss dem Gesundheitsministerium zugeordnet werden – Es gehört in dieses Ministerium und nicht ins Innenministerium.

Literaturliste

Für eine vollständige Literaturliste kontaktieren Sie bitte: info@fitnesstribune.com

Nils Daimer

Nils Daimer arbeitet seit 2005 in der Fitnessbranche. Der ehemalige Profi­triathlet hat seinen MBA an der DHfPG im Dez. 2019 abgeschlossen. Neben der Funktion der fachlichen Leitung der vier New Mountains Fitness & Wellness Lofts im Münchner Norden berät er Unternehmen rund um das Thema Betriebliches Gesundheitsmanagement. Er engagiert sich im wissenschaftlichen Beirat der Expertenallianz für Gesundheit e.V., damit der Stellenwert des Sports für unsere Gesellschaft neu diskutiert wird.

www.new-mountains.de