Editorial Fitness Tribune – 193
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4. August 2021

Alle Menschen handeln sinnvoll

In dieser Kolumne geht es um mentales Gewichtheben. Wahre Fitness trainiert beides. Physische als auch psychologische Muskeln. Viel Spass beim neuronalen Schwitzen.

Für manche Leser mag das eine steile These sein. Gibt es denn nicht überall Idioten? Ich halte dagegen und lade Sie ein, meine Perspektive zu prüfen. Zuerst werfen wir einen Blick in die Biologie des Menschen. Stark vereinfacht funktioniert unser Gehirn mit zwei Systemen. Beachten Sie bitte Skizze A. System 1 ist alt, mächtig und funktioniert nach primitiven Reflexen. Hier geht es um die Triebe wie Essen, Sex und dem Überleben mit den Modi Flüchten oder Kämpfen. Hier regieren unsere stärksten Emotionen und nur das eigene Befinden ist der Kompass. Das Denken läuft schnell und automatisch ab. Der momentane Impuls – das Hier und Jetzt – ist die Orientierungsgrösse. System 1 wird mit dem Unterbewusstsein assoziiert.

System 2 ist dagegen ein «neues» Gehirn-areal. Hier regiert der Verstand, die Planung, der «gute Wille», das Soziale. Dieses System funktioniert langsam und es ist ein anstrengendes Denken, da das Bewusstsein nun aktiviert ist.

Bereits jetzt sollte klar sein; wir Menschen sind Widerspruchs-Wesen, denn die beiden Systeme konkurrenzieren sich oft mehr, als dass sie sich ergänzen. Das System 1 stammt aus dem Tierreich. Im Laufe der Evolution hat sich beim Menschen ein Bewusstsein – System 2 – entwickelt, welches seine Heimat im präfrontalen Cortex hat. Wir Menschen sind somit Animal-PLUS-Geschöpfe. Der Mensch kann dank System 2 vor-, nach-, und mitdenken. Denken ist unser evolutionärer Vorteil gegenüber anderen Lebewesen, die primär nur mit Impulsen agieren.

Wir Menschen sind derart ausgereift im Denken, dass wir uns Theorien und Sachen ausdenken können, die gar nicht existieren. Lange glaubte der Mensch, die Sonne drehe sich um die Erde. Auch für erfundene Götter wie z. B. Teutates, Baal oder Zeus schlugen sich die Menschen regelmässig ihre Köpfe ein. Kein Tier macht sich über Götter, Fussball oder Bildung Gedanken. Es interessiert sie nicht. Primär geht es ums Fressen oder Nicht-Gefressen werden. System 1 reicht für dieses Spektrum völlig.

Nun wird es praktisch, doch ich will Sie warnen. Die folgenden Zeilen könnten Ihre Gefühle verletzen. Ihr Weiterlesen geschieht auf eigene Gefahr!

Nehmen wir an, Sie leben in einer Partnerschaft und ertappen Ihren Schatz beim Sex mit einer anderen Person. Welche der drei Möglichkeiten ist Ihnen am nächsten?

  1. Sie schreien beide an, laufen gekränkt davon und werden die Scheidung einleiten.
  2. Sie zerren Ihren Schatz vor ein Gericht, dass die Steinigung erlaubt.
  3. Sie ziehen Ihre Kleider aus und machen gleich mit.

Die Quizfrage ist nun nicht, welche Antwort moralisch höher einzustufen ist. Es geht mir um Folgendes: Ein Ereignis erzeugt komplett andere Reaktionen. Doch egal wie unterschiedlich die Reaktionen auch ausfallen. Eines haben sie gemeinsam. Sie sind voller Sinn. Für den Monogamist ist das Brechen des sexuellen Exklusivrechts ein logischer Scheidungsgrund. Als tiefgläubiger Islamist und Verfechter der Scharia ist die Steinigung die gerechte und sinnvolle Strafe. Als Swinger ist Sex mit unterschiedlichen Personen die Norm und kein Grund die Ehe aufzulösen.

In einer Demokratie sind unterschiedliche Lebensentwürfe innerhalb bestimmter Normen und Werte GLEICH-GÜLTIG. Dabei folgt jeder Mensch seiner eigenen kulturell und individuell programmierten Grundeinstellung von System 1 und 2. Wir leben nicht in einem Universum, wir leben in einem Multiversum.

Das Fitnesstraining, dass wir betreiben, es ist sinnvoll für uns. Andere – und es ist die Mehrheit der Bevölkerung – haben ihre Gründe dagegen und sehen davon ab. Der Film, den wir am Abend schauen, den Marken-Pullover, den wir kaufen, die Süssigkeiten, die wir naschen, das teure Auto, all das ist sinnvoll für uns. Der Bodybuilder, der sich Anabolika spritzt; es ist voller Sinn. Er will einfach mehr Muskeln. Das ist seine Orientierung! Die gesundheitlichen Gefahren, die dabei mitgespritzt werden, nimmt er in Kauf. Würde er sie nicht in Kauf nehmen, dann würde er von der Spritze lassen.

Der Terrorist, der in ein Hochhaus fliegt, der Bankräuber, der Geld plündert, der Vater, der seine Kinder schlägt, sie alle handeln sinnvoll. Keineswegs will ich solche Handlungen entschuldigen oder gar für gut befinden. Verständnis und Einverständnis sind nicht das Gleiche.

Ich will bloss aufzeigen, dass wir immer den Impulsen von System 1 oder 2 folgen. Wir können nicht hirnbefreit agieren. Wie kurios die Handlung immer auch sein mag. Immer handelt es sich dabei um totale Hirn-Action. Ob derbe Schimpfwörter, ausgestreckte Mittelfinger; oft ist es so, dass man seine Handlungen bereits kurze Zeit später zutiefst bereut. Warum ist das so? Erinnern wir uns. Das System 1 ist automatisch und schnell. Es agiert animalisch. Das System 2 ist langsam und es kostet mehr Energie als der Autopilot (System 1).

Bei Skizze B sehen Sie einen Kuchen und einen Apfel. Nehmen wir an, eine Person möchte abnehmen und hat etwas Hunger. Für was würde sich System 2 entscheiden? Die Frucht. Wenn nun aber die Person müde ist, unter Zeitdruck arbeitet und generell einen schwierigen Tag hatte. Nach was wird die Person nun eher greifen? Eben!

Es ist wichtig zu wissen, dass wir unterschiedliche Strömungen (Systeme) in uns haben. Wir sind keine Entweder-oder- sondern Sowohl-als-auch-Wesen. Wir sind weder gut noch böse. Wir sind beides. Wir haben konstruktive als auch destruktive Kraftfelder in uns. Dieses Dilemma- Bewusstsein ist elementar, da ein Leben nur dann gelingen kann, wenn wir die internen Gegensätze, die wir als Mensch nun mal haben, akzeptieren. Verleugnen ist nie gut und wer im Leben unschuldig sein will, der hat bereits verloren. Wenn Sie – um im Beispiel zu bleiben – nach dem Kuchen greifen, dann sollten Sie nicht zu hart mit sich ins Gericht gehen. Und diese Nachsicht sollte auch für andere gelten. Harsche Kritik geht meist sehr schnell über die Lippen. Doch vergessen wir nie. Die individuell konfigurierten Systeme 1 und 2 sind auch bei allen anderen Menschen installiert. Der Mensch ist keine Maschine, die einfach rund läuft. Er ist mehr und das ist eine Krux und ein Geschenk zugleich. Ist das nicht wunderbar?

Weil die Systeme 1 und 2 in uns regieren, ist alles was wir machen, für uns selber. Wir haben noch nie etwas für andere gemacht. Einspruch: Es gibt doch Menschen, die ehrenamtlich für karitative Zwecke oder in der Familie für andere aufopferungsvoll arbeiten. Das machen sie doch eindeutig für andere. Abgelehnt. Wir helfen anderen aus diversen Gründen. Sei es aus einem Pflichtgefühl, welchem wir gerecht werden wollen, sei es, dass wir für eine gute Sache etwas bewirken wollen. Letztlich gibt uns das ein gutes Gefühl. Wer Geld spendet, der verliert zwar Geld, doch gleichzeitig gewinnt er an Genugtuung, da sein Geld einer guten Sache dient. Und manch einer spendet gerne öffentlich, da er bei den Mitmenschen mit seiner Geste punkten kann. Auch das dient im Kern wieder dem Eigeninteresse.

So gesehen handelt kein Mensch irrational. Die Spieltheorie untermauert das. Das traditionelle Spiel geht so. Zwei Personen (A und B) sind anwesend. Person A erhält 100 CHF. Die einzige Auflage ist, dass A den Betrag mit B teilen muss. Person A kann selber entscheiden, ob sie die Hälfte (also 50 CHF) abgibt oder einen anderen Verteilerschlüssel wählt (z. B. 60 zu 40 CHF). Doch nur wenn B den Vorschlag von A annimmt, können beide das Geld behalten.

A kann sich nun sagen. Ich nehme 90 CHF und gebe 10 CHF ab. Schliesslich sind 10 CHF immer noch besser als 0 CHF. Aber so funktioniert es nicht. Die Erfahrung hat gezeigt, dass die Schmerzgrenze bei ca. 33 Franken lag. Sank der Betrag unter diesen Wert, lehnten die meisten den vorgeschlagenen Deal ab. Aus ökonomischer Sicht ist das völlig irrational. Lieber etwas Geld als gar kein Geld. Doch Menschen haben auch einen Sinn für Fairness. Dieser Sinn geht über die reine Gewinnmaximierung aus. Menschen suchen den Ausgleich. Es gibt keine Buchung ohne Gegenbuchung. Lieber schade ich mir selber und verzichte auf Geld, wenn ich dabei gleichzeitig auch dem Partner schaden kann, der mir nur ein paar Almosen geben wollte. Aus dieser Per-spektive erscheint der Verzicht aufs Geld wieder völlig rational.

Falls Sie eine Führungskraft sind, dann sollten Sie sich das merken. Fühlen sich die Mitarbeiter von Ihnen unfair behandelt, dann lassen sie sich heimlich auszahlen. Zum Beispiel Büromaterial nach Hause mitnehmen, Arbeitszeitrapporte frisieren, steriler Dienst nach Vorschrift, Arzttermine in die Arbeitszeit verlegen usw. Die Liste der Möglichkeiten ist endlos. Vom folgenden Satz bin ich zutiefst überzeugt. Jeder Chef hat langfristig die Mitarbeiter, die er verdient. Wer also ständig über mühsame und demotivierte Mitarbeiter jammert, der sollte die Scheinwerfer auf sich richten und sich selber zuflüstern: Alle Menschen handeln sinnvoll.

Eric-Pi Zürcher

War früher über Jahre als Personal Trainer tätig und arbeitet nun beim FC Thun als Konditionstrainer.

E-mail: eric-pi@bluewin.ch